"Es wird gleich wild", erklärt Brigitte von der Digital Product School. 45 Mitarbeitende der Caritas im Bistum Limburg lauschen der jungen Digital-Expertin aus München, die zuvor Zettel mit kleinen Aufgaben verteilt hat. "Die Regel ist nicht miteinander sprechen. Alle bereit? Dann los!" Sofort bricht Chaos aus. Die Stühle in der Mitte werden - scheinbar planlos - gestapelt, in Kreis gestellt, umgedreht, zur Seite geräumt. Alles gleichzeitig und durcheinander. "Ich wusste, dass das passiert", sagt Benedict und lacht laut, während er zum nächsten Stuhl greift. Einige Minuten später sind die Stühle zur Überraschung aller doch säuberlich aufgereiht. Die Caritas-Mitarbeitenden atmen tief durch. "Sind alle zufrieden mit der Aufgabe, die sie bekommen haben?", fragt Brigitte. Bei der Übung hätten alle trotz unterschiedlicher Aufgaben an einem Ziel gearbeitet und es auch erreicht. Dafür sei aber wichtig gewesen, aufmerksam zu beobachten und offen zu sein für den anderen. Um die gemeinsamen Ziele zu erreichen, sei Kommunikation entscheidend.
Kleine und große Helfer für den Alltag
Wenig später haben sich die Teilnehmenden, viele arbeiten in Pflegeeinrichtungen und Beratungsdiensten der Caritas, leiten Teams oder ganze Einrichtungen, in verschiedenen Kleingruppen aufgeteilt und stellen sich gegenseitig zu zweit oder zu viert sogenannte "Magic Buttons" vor. Das sind Ideen, die mit Hilfe künstlicher Intelligenz konkrete Probleme im Arbeitsalltag der Pflege- und Beratungsexpert*innen lösen sollen. "Mein ,Magic Button‘ heißt Taski", stellt Benedict seine Idee vor. Aus Mails und Telefonaten soll der "magische" Helfer selbständig Termine, Aufgaben und Meetings planen. "Das ist für Pflegende super wichtig", erklärt er. Von etwa 40 Ideen träumen die Caritas-Mitarbeitenden und stellen sie sich mit einem kurzen Pitch gegenseitig vor: Ein System, mit dem Anträge in der Beratung schneller bewilligt werden können. Eine Lösung, mit der staatliche Leistungen wie das Elterngeld unkompliziert gestellt werden kann oder eine App für gesünderes Essen in Pflegeeinrichtungen. Durch die Vorstellung und Rückfragen im Gespräch wird das Problem mehr und mehr geschärft. Und es zeigt sich, welche Ideen begeistern.
Weniger Bürokratie - mehr Zeit für Menschen
Denn zunächst soll nur eine auch tatsächlich weitergedacht und realisiert werden. 100.000 Euro stellt der Caritasverband für die Diözese Limburg über seinen Innovationsfonds "Künstliche Intelligenz - Mehr Zeit für Menschlichkeit" zur Verfügung. Damit soll eine Anwendung entweder gekauft oder passgenau programmiert werden. Ziel des Fonds ist es, Fachkräfte zu unterstützen und ihnen durch clevere Lösungen mit Künstlicher Intelligenz mehr Zeit für Klienten zu geben. Unterstützung hat sich die Caritas bei der Digital Product School geholt, einem Programm im Innovationsnetzwerk der Technischen Universität München, durch das Studierende aus aller Welt über mehrere Monate hinweg gemeinsam mit Kunden reale digitale Produkte entwickeln.
Technologie bietet viele Einsatzmöglichkeiten für Sozialwesen
Wie vielfältig die Einsatzmöglichkeiten von KI in der Sozialwirtschaft sind, erklärten verschiedene KI- und Digitalexperten. Prof. Dr. Gesa Linnemann von der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen gab den Teilnehmenden einen halbstündigen Crashkurs in Sachen KI. Was ist etwa eine starke oder eine schwache KI? Was versteht man unter maschinellem Lernen? Was kann KI leisten und was sind noch Herausforderungen? "Es gibt nicht die KI - KI ist gestaltbar", macht Linnemann den Caritas-Mitarbeitenden klar. Mensch und KI könnten ein starkes Team sein. Gleichzeitig müsse der Mensch aber auch darauf achten, nicht zu viel Verantwortung aus den Händen zu geben. Lea Bergmann vom Verband für Digitalisierung der Sozialwirtschaft e. V., Frank Eierdanz vom Zukunftszentrum ZUKIPRO und Professor Dr. Robert Lehmann von der Technischen Hochschule Nürnberg stellten den Mitarbeitenden konkrete digitale und KI-basierte Anwendungen in Pflege und Beratung vor. Sonja Baier und Lena Wirthmüller vom Caritasverband für die Erzdiözese München-Freising berichteten von ihren Erfahrungen mit der Entwicklung von KI-Anwendungen gemeinsam mit der Digital Product School.
In kürzester Zeit über Ideen ausgetauscht
"Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich bin ziemlich zufrieden", sagt Steffen von der Digital Product School. Aus den vielen Ideen wurden inzwischen acht Ideen und dahinterliegenden Probleme im Plenum vorgestellt, bewertet und priorisiert. In den nächsten Wochen gehen nun ein eigens zusammengestelltes Team aus Studierenden auf die Suche nach Lösungen. Auch Marcus, ebenfalls von der Digital Product School, ist sehr zufrieden. "Das hat gut funktioniert." In weniger als einer Stunde hätten sich die Personen kennengelernt, über ihre Ideen und Probleme ausgetauscht, Nachfragen gestellt, Zusammenhänge erörtert und Prioritäten gesetzt. Was aus den vielen Ideen aber am Ende tatsächlich herauskommt, ist auch für den Experten, der bereits ein eigenes Unternehmen gegründet hat und nun schon seit vier Jahren junge Nachwuchskräfte bei der Entwicklung von Produkten coacht und berät, noch nicht absehbar. "Wir versuchen sehr problemorientiert in den Gesprächen zu bleiben und Probleme kleiner und kleiner zu fassen. Es gibt einen Grundsatz bei digitalen Produkten. Es gibt kein funktionierendes komplexes System, was so konzipiert wurde. Jedes komplexe System, das funktioniert, hat als einfache Lösung begonnen und ist dann gewachsen."
Neues Verständnis von KI gewonnen
Mit der Kick-Off-Veranstaltung hat die Auseinandersetzung der Caritas mit dem Thema KI begonnen. Teilnehmer Benedict ist neugierig, wie es weiter geht. "Es war wirklich spannend. Ich habe ein neues Verständnis entwickelt, was KI überhaupt ist. Und ich bin positiv überrascht, dass wir als Diözesancaritasverband gemeinsam daran arbeiten." Es sei toll gewesen zu sehen, wie viele Ideen es zum Thema KI-gestützter Arbeit bereits gebe. Auch Benjamin hatte an dem Tag Aha-Erlebnisse: "Das erste Aha-Erlebnis war das Tool, das in München entwickelt wurde - die CareMates." Mit diesem Tool wird etwa die Zeit für die Aufnahme von Patienten um 80 Prozent verkürzt. "Das ist spannend auch für unseren Bereich. Ich wusste gar nicht, dass es das schon gibt." Und das zweite? Das sei die Arbeit an den Magic Buttons gewesen. Sich gegenseitig zu bereichern, Ideen zu hinterfragen, sich gegenseitig ergänzen und alles so schnell. "Es war wirklich gut."