Limburg.- Diözesancaritasdirektor Jörg Klärner und die zuständige Referentin Merhawit Desta schauen angesichts des Weltflüchtlingstages im Juni 2021 auf das Thema Integration. Wie sind die Geflüchteten, die seit 2015 kamen, mittlerweile integriert? Aber auch die aktuelle Situation Geflüchteter wird im Interview beleuchtet. Von 2015 bis 2020 sind rund 143.000 Flüchtlinge nach Hessen gekommen. Seit Januar 2021 kamen weitere 3.000 hinzu. Um die Integration zu erleichtern, müssten unter anderem flächendeckend Flüchtlingsberatungsstellen geschaffen werden.
Ruft man sich die Flüchtlingsthematik in 2015/2016 in Erinnerung, wie hat die Caritas das damals erlebt?
Klärner: Ja, 2015 war keiner wirklich auf diese Situation vorbereitet. Strukturen mussten zunächst geschaffen bzw. erweitert werden, um die Menschen zu versorgen. Nicht nur die Politik auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene war gefragt zu handeln, sondern wir alle als Gesellschaft waren gefordert. Auch die Kirche mit ihrer Caritas wollte und will zur Unterstützung und zur Integration der Flüchtlinge ihren Beitrag leisten. Die für Hessen zuständigen drei Bistümer Limburg, Fulda und Mainz sowie die Caritas in haben beachtliche Kirchenmittel für die Integration von Flüchtlingen zur Verfügung gestellt. Das Bistum Limburg hat das Projekt "Willkommenskultur für Flüchtlinge" aufgelegt und seit 2015 5,8 Mio. Euro für die Flüchtlingsarbeit eingesetzt.
Wie ist das Geld eingesetzt worden? Können Sie Beispiele geben?
Desta: Mit den Kirchenmitteln wurden zum Beispiel Personalstellen für die Asylberatung von Flüchtlingen geschaffen und Stellen zur Koordinierung des ehrenamtlichen Engagements. Außerdem wurden zahlreiche Projekte umgesetzt, um die Integration und den Spracherwerb zu fördern. Das heißt niedrigschwellige Deutschkurse, ein Projekt "Verständliche Bibliothek", MuT-mach - Theater zur Förderung der Sprachkompetenz, Kulturabende, Koch- und Musikprojekte oder Diversity-Picknicks zum gegenseitiges Kennenlernen von Flüchtlingen und Einheimischen. Insgesamt hat sich seit 2015 auf allen Ebenen viel getan. Die Thematik hat öffentliche Bedeutung erfahren und die Kooperation unter den Beteiligten vor Ort, d.h. von öffentlichen und nichtöffentlichen Stellen wurde auf- bzw. ausgebaut. Einig sind sich dabei alle Handelnden, dass Flüchtlinge ein Teil der Gesellschaft sind und ihre Integration notwendig und wertvoll ist.
Integration ist wichtig, dazu gibt es ja auch seitens der Länder Integrationsprogramme. Reicht das aus?
Klärner: Auch das Land Hessen hat zur Integration von Flüchtlingen, Integrationsproramme auf den Weg gebracht, z.B. das WIR-Programm, WIR steht für wegweisende Integration realisieren.. Leider finanziert das Land Hessen jedoch keine flächendeckende Flüchtlingsberatung, die zur Integration von Flüchtlingen aus unserer Sicht dringend notwendig ist. Die bestehenden regionalen Flüchtlingsberatungsstellen in Hessen werden aus Kirchenmitteln finanziert. Hierzu hat die Caritas gemeinsam mit Bündnispartnern schon 2018 ein Positionspapier verfasst und flächendeckend regionale Flüchtlingsberatungsstellen gefordert. Diese sind ein wichtiger Baustein für die Integration von Flüchtlingen.
Ist es gelungen, die Geflüchteten in den vergangenen Jahren gut zu integrieren?
Desta: Eine gelingende Integration setzt den Spracherwerb voraus; außerdem eine Wohnung, Arbeit, soziale Kontakte. Vielen Flüchtlingen wird der Integrationsprozess jedoch erschwert, weil sie aufgrund ihrer ungewissen Bleibeperspektive öffentliche Integrationsangebote nicht in Anspruch nehmen können. Zum Beispiel können nicht alle Flüchtlinge an Integrationskursen teilnehmen. In der Regel können nur Flüchtlinge einen Integrationskurs besuchen oder durch die bundesgeförderte Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer (MBE) beraten werden, wenn sie einen Schutzstatus vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zuerkannt bekommen. Das ist der rechtlich vorgegebene Rahmen. Die Realität zeigt aber, dass viele der Flüchtlinge in Deutschland bleiben und sich ein Leben aufbauen: Sie werden engagierte Mitglieder einer Kirchengemeinde, haben deutsche Freunde, die Kinder gehen in den Kindergarten oder zur Schule. Viele der Flüchtlinge gehen auch einer Arbeit nach. Deshalb fordern wir die Öffnung der staatlichen Integrationsmaßnahmen von Anfang an für alle - unabhängig ihres Aufenthaltstitels. Unsere Caritas-Integrationsangebote richten sich deshalb an alle. Wir schließen quasi diese Versorgungslücke.
Wie steht es um die Unterbringung? Leben noch immer viele in Sammelunterkünften? Ist das nicht eher hinderlich bei der Integration?
Klärner: Es besteht ja zunächst eine Wohnpflicht in Erstaufnahmeeinrichtungen, sprich in den Sammelunterkünften der Länder, und zwar für einen gesetzlich vorgeschriebenen Zeitraum von max. 6 Monaten für Familien bzw. max. 18 Monaten für Alleinstehende. Von der Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen - weitere Standorte sind Neustadt, Bad Arolsen, Büdingen, Kassel-Niederzwehren und Darmstadt - werden die Flüchtlinge in hessische Städte und Landkreise verteilt. Die aktuellsten Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen, dass in 2019 knapp 70 Prozent der Flüchtlinge, die in Hessen leben, in Sammel- bzw. Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sind. Bei der dezentralen Unterbringung von Flüchtlingen, das heißt die Unterbringung in Wohnungen belegt Hessen mit 32% bundesweit den viertletzten Platz.
Desta: Aus der Erfahrung unserer Migrationsdienste können wir feststellen, dass diese Unterbringungsform die Integration von Flüchtlingen behindert, weil die Menschen dort abgeschirmt und isoliert leben. Oftmals besteht kein Kontakt zu Einheimischen und zu Integrationsangeboten. Darüber hinaus sind es die fehlende Beschulung von Minderjährigen und die stark eingeschränkten Sprachkurs- und Integrationsangebote insbesondere in der Erstaufnahmeeinrichtung, die die Integration behindern.
Wie sieht es mit der Integration auf dem Arbeitsmarkt aus?
Klärner: 49 Prozent der Geflüchteten, die seit 2013 nach Deutschland gekommen sind, gehen fünf Jahre nach dem Zuzug einer Erwerbstätigkeit nach. Zu diesem Ergebnis kommt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung im Februar 2020. Die Corona-Pandemie wird sicher Auswirkungen auf diese positive Entwicklung haben, da viele Flüchtlinge im Dienstleistungsbereich tätig sind , z.B. im Gastronomie- oder Hotelgewerbe. Bei der Arbeitsmarktintegration ist es wichtig zu wissen, dass der Zugang zum Arbeitsmarkt nicht allen Flüchtlingen offensteht. Das Recht zu arbeiten, ist bei Flüchtlingen von ihrem Aufenthaltstitel abhängig. Während der Unterbringung in der Erstaufnahmeeinrichtung gilt ein vollständiges Arbeitsverbot. Wenn die Menschen dann in die Kommunen verteilt werden, können sie in der Regel nur dann eine Arbeit aufnehmen, wenn sie einen Schutzstatus haben bzw. erhalten. Solange sie sich im Asylverfahren befinden oder ihr Asylantrag abgelehnt worden ist, dürfen sie nur in Ausnahmefällen arbeiten.
Was tut die Caritas hier?
Desta: Die Caritas berät in ihren Migrationsdiensten Flüchtlinge ganz konkret bei der Arbeitsmarktintegration, z.B. bei der Beantragung einer Arbeitserlaubnis bei der Ausländerbehörde. Auch werden Kirchenmittel bereitgestellt, um Menschen finanziell zu unterstützen, z.B. um bestimmte Kompetenzen zu erlangen, die den Arbeitsmarktzugang ermöglichen bzw. erleichtern. Das Bistum Limburg hat hierfür einen Fonds "Arbeitsmarktintegration" eingerichtet und diesen mit 100.000 Euro ausgestattet. Über diesen Fonds finanziert wurden zum Beispiel Bewerbertrainings, Tablets für die Sprachförderung zur beruflichen Integration oder fachspezifische Deutschkurse für Auszubildende.
Aber es gibt noch viele weitere Projekte und Dienste. Es gibt zum einen die Migrationsdienste der Caritas mit ihrem Beratungsangebot, an die sich Flüchtlinge wenden können: Das sind die Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer (MBE), die Jugendmigrationsdienste (JMD) und die Flüchtlingsberatungsstellen (Asylberatung). Daneben gibt es noch eine Vielzahl an kleinen Projekten, die über Kirchenmittel finanziert und von Ehrenamtlichen vor Ort zur Integration von Flüchtlingen umgesetzt werden. Das sind z.B. Begegnungscafés, Fahrradwerkstätten, Kinderkino, Hausaufgabenhilfe.
Gibt es immer noch so viele Ehrenamtliche wie 2015?
Klärner: Mit dem starken Rückgang der Flüchtlingszahlen ist auch die Zahl der Ehrenamtlichen gesunken. Insgesamt können wir dennoch feststellen, dass es in der Caritas weiterhin eine nennenswerte Zahl an Ehrenamtlichen gibt, die sich weiterhin für Flüchtlinge engagieren. Im Bistum Limburg kann ich hier die Zahl von mindestens 730 Ehrenamtlichen nennen. Viele Ehrenamtliche gerade in der Coronazeit hatten auch kreative Ideen entwickelt, um weiterhin für Flüchtlinge da zu sein. Beispielsweise haben sie Flüchtlingskinder über Videochat bei den Hausaufgaben unterstützt.
Desta: Wir stellen außerdem fest, dass sich zunehmend Flüchtlinge selbst ehrenamtlich engagieren. Zum Beispiel engagieren sich ehemalige Flüchtlinge im CariLingua-Projekt der Caritas als Sprach- und Kulturmittler in Limburg und Wetzlar/Lahn-Dill-Eder. Das Bild der Ehrenamtlichen als Helfer auf der einen Seite und der Flüchtlinge auf der anderen Seite, die Hilfe in Anspruch nehmen, hat sich verändert. Vielmehr sind Flüchtlinge in vielen Caritas-Projekten selbst ehrenamtlich engagiert und unterstützen Neuankömmlinge mit wichtigen Informationen und vor allem bei Behördengängen.
(fl)