Seit Anfang dieses Jahres wird der Caritasverband für die Diözese Limburg (DiCV LIMBURG) erstmals von einer Doppelspitze geleitet. Jörg Klärner, seit 2018 im Vorstand, und Dr. Karl Weber, seit Januar mit im Amt, ziehen im Interview nach den ersten 100 Tagen eine erste Bilanz. Dabei geht es auch um den Krieg in Europa und die Unterstützung der vielen Geflüchteten.
Sie leiten einen Wohlfahrtsverband in Krisenzeiten: Die Corona-Pandemie und die Krise der Katholischen Kirche betreffen auch die Caritas. Ganz aktuell sind die Herausforderungen durch den Krieg in der Ukraine. Wo sehen sie diese?
Weber: Putins Angriffskrieg bringt unsägliches Leid über die Menschen in der Ukraine. Uns erreichen Bilder von Gräueltaten, deren Langzeitfolgen schon jetzt - jenseits des ohnmächtigen Erschreckens über die Opfer - absehbar sind: seelische Verwundungen über Jahrzehnte hinweg bei den Betroffenen. Der erste Blick muss deshalb in die Region gehen. Caritas International, das Hilfswerk der deutschen Caritas, verfügt über ein langjähriges Netzwerk in der Ukraine und den Nachbarländern. Da bewährt sich, dass wir als Weltkirche über die nationalen Grenzen hinweg Hilfe leisten können. Die Aufnahme von Geflüchteten stellt uns jetzt zunehmend auch in Deutschland vor Herausforderungen. Es gibt zum Glück großes ehrenamtliches Engagement. Aber bereits jetzt zeichnen sich neue Bedarfe ab. Denn anders als 2015 ist es eine sehr offene Situation mit vielen Fragen.
Klärner: Zum Beispiel: Wie lange bleiben die Menschen, gehen sie zurück, wie lange dauert der Krieg? Was brauchen sie jetzt? Beim Blick darauf übernehmen unsere Ortsverbände gerade große Verantwortung. Auch die Corona-Pandemie spielt rein. Viele Menschen kommen ungeimpft, auf der anderen Seite leiden unsere Hilfesysteme, unter anderem im Bereich der Kitas, immer noch unter coronabedingten Einschränkungen. Die Kinder sofort in Kitas zu bringen, ist daher im Moment nicht die einzige Antwort. Stattdessen könnte es darum gehen, einen sicheren Hafen zu bieten für die Mütter und Kinder, die hierher geflüchtet sind, während die Väter im Krieg sind. Das ist eine neue Situation, die wir miteinander bewältigen müssen. Wir unterstützen daher die Forderungen von Kommunen, die außerhalb des Regelbetriebs für die Menschen hier in einer offenen Situation eine gute Betreuung bieten wollen.
Weber: Uns ist in dem Zusammenhang aber noch etwas anderes sehr wichtig: Die Geflüchteten, die bereits hier sind, aus Afghanistan, Syrien, dem Irak, laufen im Moment Gefahr, aus dem Blick zu geraten. Auch sie benötigen Unterstützung.
Was macht die Caritas aktuell?
Klärner: Und wir engagieren uns in der Liga der freien Wohlfahrtspflege, wo wir mit dem DRK, der Diakonie, der AWO und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband und dem Landesverband der jüdischen Gemeinden in Deutschland, unsere Kräfte bündeln und als fachkompetenter Partner den Landesregierungen in Hessen und Rheinland-Pfalz zur Seite stehen und uns in das Krisenmanagement einbringen. Außerdem haben wir selbst einen Koordinationskreis Ukraine und arbeiten eng mit dem Bistum Limburg zusammen. Vor Ort gibt es ebenfalls Krisenstäbe, die eng mit der kommunalen Verwaltung im Austausch sind, um schnell reagieren zu können.
Weber: Wir sind ja Anwalt, Dienstleister und Solidaritätsstifter: Als Anwalt für Benachteiligte und hier eben auch für Flüchtlinge treten wir dafür ein, dass die Menschen ihre Rechte und ihre Leistungen bekommen. Wir fördern und unterstützen zudem das ehrenamtliche Engagement. Aufgrund der vorwiegend privaten Unterbringung brauchen wir verstärkt aufsuchende Arbeit in der Beratung und Unterstützung der Geflüchteten - und das in einer Zeit des Fachkräftemangels. Es geht jetzt um unbürokratische Hilfe, hier muss die Gesetzgebung der Länder und des Bundes Ermessensspielräume ermöglichen.
Das Thema Corona ist eben bereits angesprochen worden: Wie hat sich die Pandemie in der Arbeit bemerkbar gemacht?
Klärner: Im Rückblick denke ich daran, wie alles angefangen hat - unser erstes Problem war es, Schutzkleidung und Ausrüstung zu besorgen. Wir mussten von da ab vieles lernen, was inzwischen längst Routine ist. Unsere Mitarbeitenden vor Ort, in der Pflege, in Küche und Hauswirtschaft haben Herausragendes geleistet und tun es immer noch. An dieser Stelle noch mal ein großes Dankeschön dafür! Eine spürbare Auswirkung der Pandemie ist die stark gestiegene Nachfrage nach Beratung. Viele Menschen hatten und haben Existenzängste, Suchtverhalten war und ist ein Thema. Wir selbst haben im Bistum 250.000 Euro zur Verfügung gestellt, um Kontingente in den psychologischen Beratungsdiensten temporär aufzustocken und im niedrigschwelligen Bereich Angebote machen zu können. Die Landesregierung konnte nicht überzeugt werden, dafür Sondermittel einzusetzen. Dabei sind wir in puncto Prävention überzeugt, dass die eine oder andere erfolgreich abgeschlossene begleitende Beratung stationäre Aufenthalte vermeidet.
Welche längerfristigen Auswirkungen sehen Sie?
Weber: Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, es gebe einen "Freedom Day" und dann geht`s zurück ins alte Leben. Die Veränderung hat unterschiedliche soziale Folgen. Der Trend zum Homeoffice schränkt diejenigen dauerhaft ein, die eh schon prekär wohnen, kein Arbeitszimmer haben, die Kinder - alleinerziehend - betreuen und dazwischen noch eine Videokonferenz auf einem alten Gerät unterbringen müssen. Durch die Privatisierung hat die Sichtbarkeit dieser Not abgenommen. Digitalisierung ist ambivalent: So war zum Beispiel eine digitale Beratung vor Corona eher eine Ausnahme. Heute ist sie selbstverständlich.
Klärner: Wir konnten mit unseren Online-Formaten auch in Lockdown-Zeiten auf Menschen zugehen. Die Wohlfahrtsverbände und insbesondere die Caritas haben damit gezeigt, wie flexibel sie sind. Mit Blick auf die öffentliche Verwaltung mussten wir feststellen, dass es da weniger Bewegung gab. Hier ist noch Luft nach oben in puncto Digitalisierung und Dienstleistungscharakter. Den Digitalisierungsschub durch Corona sehe ich grundsätzlich positiv. Aber: Je mehr digitalisiert wird, desto wichtiger wird die "digitale Teilhabe". Das betrifft nicht nur Menschen in prekären Lebenssituationen, sondern auch ältere und alte Menschen. Wenn zum Beispiel ihre Bankfiliale schließt und sie keine Überweisung mehr abgeben können, ist das Exklusion. Es geht nicht ohne Doppelstrukturen. Wir machen das bereits im Beratungsbereich. Oder auch dahingehend, dass Beratungen online begonnen und in Präsenz fortgeführt werden können. Dieses Zusammenspiel gehört zu den Dingen, die wir weiter entwickeln müssen. Wir waren kreativ, aber auch wir müssen nachlegen…
Weber: …und die Gerechtigkeitsfrage immer dabei benennen. Die digitale Spaltung kann Menschen ausschließen. Das müssen wir klar in den Blick nehmen. Not kann nicht immer nur auf individuelle Lebenslagen hin gesehen werden. Es geht um den strukturellen Ausschluss von Menschen und den Zeitpunkt, wo staatliche Unterstützung erwartet werden darf, um Elend nicht dauerhaft zu verfestigen. Es ist unsere Aufgabe, diese Dimension dem Staat gegenüber und innerkirchlich wach zu halten.
Stichwort innerkirchlich: Wo verortet sich die Caritas in der Katholischen Kirche, die deutlich in der Krise steht?
Weber: In der Praxis der sozialen Arbeit der Caritas entscheidet die gelebte Tat, verbunden mit der christlich begründeten Haltung, dass Menschen, egal wie bedürftig sie gerade sind, eine unverbrüchliche Würde haben. Das ist leicht daher gesagt: Bewähren muss sich das im Alltag einer Obdachlosenunterkunft, auf der Demenzstation, in der Sozialberatung, in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung. Da hilft keine Glaubensgewissheit auf dem Papier, sondern die - durchaus kritische - Auseinandersetzung mit der Lebenswirklichkeit. Ein Teil der Kirchenkrise besteht meines Erachtens darin, dass Teile von Kirche über Jahrzehnte hinweg diese Auseinandersetzung für sich ausgeblendet haben. Und die Antwort darauf kann nicht sein: Das macht allein die Caritas als Institution, als Verband. Gelebte Caritas ist eine Glaubenshaltung, die alle Christinnen und Christen angeht. Ich kenne zum Glück viele, die das praktizieren und nicht bei der Caritas als Arbeitgeber beschäftigt sind. Wir haben also keinen kirchlichen Alleinvertretungsanspruch, sondern müssen unseren Namen als Wertegemeinschaft immer wieder neu bewahrheiten. Und es ist gut, dass wir in der Kirchenentwicklung im Bistum die Frage stellen: Für wen sind wir da?
Klärner: Im sozialen Handeln sind wir als Caritas nah bei den Menschen und nehmen auch ihre veränderten Lebenslagen wahr. Wir sind in Bewegung, wir trauen den Menschen etwas zu. Und bekommen vielfach immer noch einen Vertrauensvorschuss von ihnen. In der Wahrnehmung von außen gibt es dabei eine große Bandbreite: Die einen wissen nicht, dass wir Teil der Kirche sind. Für andere sind wir andererseits sicherlich ein Argument dafür, nicht auszutreten, weil sie sehen, was mit Kirchensteuermitteln passiert. Wir finanzieren damit unter anderem Leistungen mit, die nicht über staatliche Hilfesysteme vollständig gedeckt sind, wie Schuldnerberatung, Beratungen für Schwangere und Familien oder Hilfeleistungen rund um das Thema Flucht. Wenn wir das nicht tun würden, würden sehr viele niedrigschwellige Beratungsangebote vollständig wegfallen.
Wie gehen Sie in der Caritas mit dem Thema Missbrauch um?
Klärner: In der Umsetzung des MHG-Folgeprojektes "Betroffene hören - Missbrauch verhindern" haben wir als Caritasverband die Verantwortung dafür, eine externe Ombudsstelle speziell für Kinder und Jugendliche zu schaffen. Da bringen wir unsere ganze Expertise ein. Wie nahezu alle Rechtsträger im Bistum haben wir als DiCV auch ein Institutionelles Schutzkonzept (ISK) entwickelt und alle Mitarbeitenden geschult. Und wir haben eine Kultur der Achtsamkeit entwickelt. Aber nicht, weil wir es sollen, sondern weil wir das als Qualitätsmerkmal definiert haben. Es ist ein Wert für uns. Das ist mir ganz wichtig.
Weber: Ich habe selbst die Schulung mitgemacht und mir ist vieles dabei bewusst geworden. Ich habe das Konzept als hochqualifiziert erfahren. Das Bistum ist mit der MHG-Studie, dem MHG-Folgeprojekt und dem Maßnahmenkatalog konsequent in die Umsetzung hineingegangen. Als jemand, der von außen ins Bistum kommt, empfinde ich das als großen Sprung nach vorn. Aber wir können uns nicht darauf ausruhen. Es geht um die Schutzbedürftigen. Und deswegen bleiben wir am Thema dran.
Und zum Schluss noch ein Wort zur Arbeit in der Doppelspitze Wie fällt ihr Resümee aus nach 100 Tagen gemeinsamer Leitung?
Klärner: Kurz gesagt: Es macht einfach Freude. Wir ergänzen uns nicht nur fachlich - ein Volkswirt und ein Theologe -, sondern es passt auch menschlich. Und es macht vieles leichter. Eine Doppelspitze ist zwar nicht die halbe Verantwortung, aber doch eine geteilte. Wir tauschen uns regelmäßig aus, das ist konstruktiv, kreativ und bereichernd. Wir legen großen Wert auf Beratung und Feedback. Wir sind mit diesem Führungs- und Leitungsmodell sehr gut unterwegs. Übrigens gibt es bereits in dreien unserer Ortsverbände dieses Leitungsmodell, ein vierter ist auf dem Weg.
Weber: Ich kann das nur bestätigen. Doppelspitze lebt von unterschiedlichen Wahrnehmungen auf gemeinsame Entscheidungen. Hinzu kommt: Ich bin neu im Bistum und im Diözesanverband der Caritas, und ich war in Aachen, woher ich komme, lange Zeit auch ehrenamtlich im kirchlichen Bereich tätig. Diese Perspektiven helfen mit, Verantwortung gemeinsam und gleichberechtigt im Dienst der Caritas im Bistum Limburg wahrzunehmen.
Die Diözesancaritasdirektoren Jörg Klärner und Dr. Karl Weber bilden nach einer Satzungsreform seit dem 1. Januar dieses Jahres gemeinsam den Vorstand des Caritasverbandes für die Diözese Limburg. Der Diplom-Volkswirt Klärner ist seit 1. Februar 2018 als Diözesancaritasdirektor tätig. Er hatte bereits seit 1995 als Abteilungsleiter beim DiCV die Verbandsentwicklung wesentlich mitgestaltet und war danach Geschäftsführer des Caritasverbandes Lünen und der St. Raphael Caritas Alten- und Behindertenhilfe GmbH in Mayen. Sein neuer Kollege, der Theologe und Historiker Dr. Karl Weber, war zuvor beim Bischöflichen Hilfswerk Misereor in Aachen und als Geschäftsführer bei der Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke in Bonn tätig.