Unzureichende Erreichbarkeit der Behörden in der Pandemie I Rückmeldungen der Träger vor Ort: Klient*innen hilflos und außen vor
Wiesbaden/Limburg.- In der Corona-Pandemie hat die Digitalisierung vielerorts an Fahrt aufgenommen. Das ist positiv, denn Digitalisierung verändert und beschleunigt Kommunikation und macht Informationen und Wissen schneller verfügbar. Zugleich hat die Pandemie aber auch knappe personelle Ressourcen und fehlende digitale Ausstattung deutlich gemacht - zulasten von Klient*innen der freien Wohlfahrtspflege. Die LIGA der freien Wohlfahrtspflege hat zum Thema "digitale Teilhabe und Exklusion" die Einrichtungen und Dienste ihrer Mitglieder befragt und drängt auf eine schnelle Lösung. Denn die Digitalisierung darf nicht zu einer Exklusion von Menschen mit kognitiven, motorischen oder sprachlichen Einschränkungen führen, so die Forderung der LIGA Hessen.
Ein Großteil der Jobcenter, Agenturen für Arbeit, Familienkassen und Jugendämter kann nur telefonisch oder nur online erreicht werden. Anträge müssen online ausgefüllt, gescannt, gemailt werden. Für Publikumsverkehr sind weiterhin viele Stellen geschlossen. "Das führt bei Klient*innen der Wohlfahrtsverbände zu teils dramatischen Situationen - dies ist nicht hinnehmbar. Insbesondere bei Jobcentern handelt es sich um Behörden, auf die viele Menschen existenziell angewiesen sind. Präsenztermine müssen möglich gemacht werden", so Jörg Klärner, Vorsitzender des Arbeitskreises "Grundsatz und Sozialpolitik" in der LIGA Hessen und Diözesancaritasdirektor im Bistum Limburg.
"Es gibt mitunter keine telefonische Kontaktmöglichkeit mehr, sondern nur die Möglichkeit, Mails und Briefe zu versenden. Auch für existenziell bedrohliche Situationen der Klient*innen existiert keine Notfallnummer. Ein weiteres Beispiel sind die eingeschränkten Schuleingangsuntersuchungen. Dies bedeutet gerade für Kinder aus einkommensschwachen Familien und für Kinder mit Förderbedarf eine Belastung, denn ohne Schuleingangsuntersuchung übernimmt zum Beispiel der Landeswohlfahrtsverband keine Assistenzleistungen für die Kinder", so Klärner.
Verbände übernehmen oftmals Aufgaben der Behörden in der Pandemie
"Da viele Ämter keine Termine in Präsenz vereinbaren, wird oftmals an die Wohlfahrtsverbände verwiesen. Der Bericht einer Mitarbeiterin aus der Migrationsberatung steht auch hier für viele weitere, die die Liga Hessen in den letzten Wochen erreicht haben: Mitarbeitende sind seit der Pandemie täglich damit beschäftigt, Klient*innen zu helfen, ihre Ansprüche gegenüber Jobcentern, Ausländerbehörden, Sozialamt, Familienkasse, Wohngeldstelle geltend zu machen," berichtet Klärner. Die Mitarbeitenden seien so nicht mehr in der Lage, zeitnahe Termine für ihre eigentlichen Aufgaben anzubieten, weil der Unterstützungsbedarf in behördlichen Angelegenheiten so groß ist.
Nicht jeder und jede könne den digitalen Weg mitgehen. Viele Klient*innen der Wohlfahrtsverbände seien hier ausgeschlossen. Zum Beispiel, weil sie die deutsche Sprache nicht oder kaum sprechen, oder weil sie kognitive Einschränkungen oder Behinderungen haben. Diese Gruppen werden auch zukünftig nicht alle in der Lage sein digital zu kommunizieren, erklärt Jörg Klärner. Andere verfügten nicht über die finanziellen Mittel für Endgeräte oder Datenvolumen. "Deshalb müssen Behörden, öffentliche Freizeit- und Kultureinrichtungen auch langfristig sicherstellen, dass auch diese Menschen Zugang zu ihnen zustehenden und existenzsichernden Leistungen, Beratungen und Angeboten erhalten", fordert Klärner. Neben dem flächendeckenden Ausbau der Digitalisierung müsse auch immer ein Präsenzangebot aufrechterhalten bleiben. Es brauche beides: digitale Zugänge und Präsenztermine nebeneinander. Gegebenenfalls müssten dieses Präsenz-Beratungsleistungen gegen Vergütung an Freie Träger delegiert werden.
"Arbeitssuchend- und Arbeitslosenmeldungen sind nur digital möglich. Danach muss inzwischen die Identität online nachgewiesen werden. Hierzu sind Klient*innen ohne entsprechende technische Ausstattung nicht in der Lage. Auch hier müssen die Mitarbeiter*innen der Verbände einspringen und stellen ihre Technik zur Verfügung," rekurriert Klärner auf die Befragung der LIGA-Mitglieder. "Fehlende Sprachkenntnisse oder Kenntnisse im Umgang mit digitalen Medien überfordern benachteiligte Menschen. Sie brauchen den persönlichen Kontakt und das persönliche Gespräch vor Ort, das Gesicht und die Mimik des Gegenübers."
Notwendig sei zudem ein Grundrecht auf Internetzugang in allen Regionen in Hessen, Unterstützung von sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen vorrangig in der Anschaffung von Hard- und Software und eine niedrigschwellige Vermittlung digitaler Kompetenzen.